September 07, 2017

Schweres Erbe, schwere Ehrlichkeit — welche Erinnerungskultur wollen wir?

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Ein Wahlplakat der NPD sorgt derzeit für eine leise Kontroverse. Es zeigt ein berühmtes Bild Martin Luthers, darunter die Worte “Ich würde NPD wählen. Ich könnte nicht anders” und weiter unten “Heimat verteidigen”. Die evangelische Landeskirche bezeichnet das Plakat als “gezielte Provokation” und als einen Missbrauch Luthers (DNN vom 2.9., S. 15). Die Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, die zusammen mit der Evangelischen Kirche Deutschland das Lutherjahr 2017 ausrichtet, äußert sich empört: das Plakat verletze nicht nur ihre Rechte an dem berühmten Bild, sondern auch die Botschaft Luthers.

Der Widerspruch zwischen dem Lutherbild der NPD und dem Lutherbild der Kirche wirft die Frage auf, wie wir uns an Martin Luther erinnern wollen: lückenhaft nur an die Punkte, die uns angenehm sind, oder ehrlich an das, was für uns zwar schwierig sein mag, aber dazu gehört. Denn fest steht: so wie Nationalisten später im 19. und 20. Jahrhundert forderte auch Luther im Mittelalter die Verfolgung von Juden. Luther verfasste drei große Schriften, die sich ausdrücklich mit dem gesellschaftlichen Umgang mit jüdischen Mitmenschen befassen. In der früheren und zu seiner Zeit als versöhnend geltenden Schrift von 1523 forderte er die Bekehrung von Juden zum Christentum — ein Handelsangebot, das die Selbstaufgabe jüdischer Mitmenschen zur Bedingung für ihre körperliche Unversehrtheit macht. In seiner späteren Schrift von 1543 mit dem hetzenden Titel “Von den Juden und ihren Lügen” forderte er die Zerstörung ihrer Gemeinschaftsräume und Schulen, ihre Enteignung und Zwangsarbeit.

Veranstaltungen, Vorträge und Ausstellungen im Rahmen des Lutherjahrs 2017 greifen diesen Punkt auf. Und doch, der Luther, an den wir lange erinnert haben in Lehrplänen, Denkmälern und jährlichen Ortsfesten, ist eine Figur, die wir auf das reduziert haben, was wir in uns selbst sehen möchten. Und die Seiten der tatsächlich einmal gelebten Person Martin Luther, ihres Handelns, ihres Schreibens, ihres politischen Programms, die nicht zu unserem Idealbild von ihm und uns passen, ignorieren wir — so wie seinen Judenhass.

Die Frage auf dem Wahlplakat danach, welche heute existierende Partei jemand aus dem 16. Jh. in der Bundestagswahl am 24. September 2017 wählen würde, ist natürlich in vieler Hinsicht absurd. Aber wenn wir diesen theoretischen Gedanken verfolgen würden, dann könnten wir angesichts dessen, was wir über die echte, tatsächlich einmal gelebte Person Martin Luther wissen, nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass er die NPD bei seiner Wahlentscheidung prinzipiell ausschließen würde.

Angesichts dessen müssen wir uns also die Frage stellen: Was hat es für Auswirkungen, wenn unser Erinnern auf stilisierten Zerrbildern aufbaut? Was bedeutet es zum Beispiel, dass Luther 1885 auf dem Dresdner Neumarkt ein Denkmal gesetzt wurde? Was sagt das über die Verantwortlichen damals aus, dass sie, sicherlich mit Luthers Werk und Wirken vertraut, ihm ein Denkmal gesetzt haben? Offensichtlich war ihnen zu dieser Zeit jemand auch dann dieser Ehre würdig, wenn er gegen jüdische Mitmenschen gehetzt hat. Und was können wir aus dem Umstand, dass wir heute bei der bewußten Neugestaltung des Neumarkts dem Lutherdenkmal abermals diese zentrale Rolle zusprechen, über uns erkennen?

Unser öffentliches Erinnern legt nicht nur Zeugnis über unsere Vergangenheit ab, sondern auch über uns. Wem wir gedenken und wie ehrlich unser Bild über diese Person ist, ist auch ein Zeichen dafür, wie ehrlich wir zu uns selbst sind. Denn eins steht fest: Martin Luthers Wirken ist maßgeblich gewesen für die Zeit nach ihm bis einschließlich heute. Unsere Gegenwart ist das Vermächtnis zahlloser bekannter und unbekannter Menschen, die vor uns kamen. Das schließt Luther mit samt seiner menschenfeindlichen Politik ein. Aber das muss nicht heißen, dass wir Luther aus unserem öffentlichen Erinnern tilgen. Im Gegenteil, wir sollten uns seinem schwierigen Erbe stellen und uns damit auseinandersetzen, wie sein Wirken unsere Gegenwart nach wie vor beeinflusst — sowohl zum guten als auch zum schlechten. Die Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit ist eine Auseinandersetzung mit uns selbst.